Ojas Power

...ist ein Begriff aus dem indischen Yoga. Es ist angeblich eine psycho-physische Kraft, die man aus sexueller Enthaltsamkeit zieht. Aber dies ist natürlich nur ein mythisch-mystischer Ausdruck. In Wirklichkeit geht es um eine komplexere Angelegenheit, die man nicht durch eine pauschale Askese löst. Sicher kann man das auch machen, und hat es auch Jahrhunderte so getan. Aber ein solches asketisches Vorgehen ist sehr wenig differenziert, fast möchte man sagen: plump. Ein einfaches Beispiel mag das Problem am besten erhellen.

Kirpal Singh erzählte oft die Anekdote, dass es Napoleon an „Ojas Power“ deutlich gefehlt habe, als er die Schlacht bei Waterloo verlor. Kirpal Singh meinte, Napoleon hätte sich nicht zurückgehalten in der Nacht vorher beim Sexualverkehr mit einer Mätresse, hätte dadurch am nächsten Tag nicht mehr die „Kraft“ gehabt, den Elan oder was auch immer, um Herr der Schlacht zu bleiben.

Doch was hätte er zurückhalten sollen? Seine Ejakulation, seine „life fluid“, wie Kirpal Singh sagte? Wir wissen von ausgedehnten Untersuchungen bei Leistungssportlern, dass eine gewisse rein körperliche Schwächung nach der sexuellen Betätigung nicht länger als einige Stunden anhält. Dagegen lagen zwischen der sexuellen Aktivität Napoleons und dem Höhepunkt der Schlacht bei Waterloo doch ein Tag.

Außerdem war ja seine physische Kraft gar nicht gefragt, sondern sein strategisches Genie. Ist es also nicht weniger der „Saft“, der „Ojas Power“ vergeudet, als vielmehr der Hochmut, die Verachtung, die Rücksichtslosigkeit? Das Mädchen, mit dem Napoleon um vier Uhr morgens Sex hatte – wie man sich heute ungenau ausdrückt - war nicht Kaiserin Josephine oder eine Nachfolgerin der Pompadour aus den besten Pariser Kreisen, sondern in seinen eigenen Augen nur ein girl, eine gosse, wie man in Frankreich sagt, eine billige Kurtisane. Dies hat er sie sicher auch spüren lassen. Nicht sich zurückhalten, sondern in die volle Liebeskunst hätte er einsteigen sollen, die ihn gelehrt hätte, das Mädchen als gleichwertige Liebespartnerin zu schätzen.

Darin also hat Napoleon seine „Ojas Power“ vergeudet, dass er nicht auf der Höhe der Liebesbeziehung geblieben ist, dass er in diesem Akt das Mädchen nicht zu seiner Frau gemacht hat. Dass er sich mit ihr nicht in der Höhe eines tiefen Verständnisses und starker Liebe,  umfassender Kenntnis ihrer Existenz und kunstvoller Beziehung verbunden hat! Vielmehr hat er sie und damit auch sich degradiert.

Es gab also keine Liebe bei Napoleon, nur ein Sexualobjekt, und das vergeudet „Ojas Power“! Die Einsicht, ein gemeinsames Narrativ ist wichtig, inwieweit die Sexualität eines Mannes mit seiner Frau auch wirklich Sprache zwischen den beiden ist, oder ob gar nichts damit gesagt wird. Hinsichtlich dieses wirklichen Sprechens, sagt Lacan, „reicht das Leben normalerweise nicht aus, um nur einer zu genügen“.

Mehr als eine braucht man(n) also für das Leben nicht und auch nicht für die wirkliche Liebeskunst. Ja, nur mit einer einzigen kann der Mann wirklich eine Chance haben, diese Kunst tatsächlich zu Ende zu bringen in der Spanne eines Lebens. Das sagt auch der Paar- und Sexualtherapeut D. Schnarch in seinem Buch „Passionate Marriage“: bevor man sich nicht dreissig Jahre kennen würde und tief miteinander vertraut wäre, käme überhaupt kein anständiger Sex zustande. Im simplen, allzu normalen, undifferenzierten Sex geht „Ojas Power“ verloren.

In seinem Buch „Sexualität und Wahrheit“ sagt M. Foucault z.B., das Zeichen „Macht“, muss man sich ohne Machthaber, ohne Herrscher denken und „Sex“ ohne Gesetz, ohne Normierung. Unter „Macht“ versteht Foucault ein System von Kräften, Kraftlinien, „Strahlen“, besser noch: ein „Es Strahlt“, und unter „Sex“ versteht er nicht die Sexualität, sondern den Körper als solchen und seine Lüste, ein unmittelbares Sich-Entäußern, eine unmittelbare Invokation, eine „Sprech-Lust“, ein „Es Spricht“, das man verbal fast gar nicht ausdrücken kann, so genussvoll ist es.

Aber wenn man sich dies alles so denkt, spürt man natürlich auch, dass es diese beiden Grundtriebe oder Grundprinzipien so isoliert, so unmittelbar gar nicht geben kann. Man kann es sich so denken, aber dann? Was passiert dann? Wie setzt man das in die Praxis um? Den „Sex ohne Gesetz“ gibt es doch so absolut und abstrakt in Wirklichkeit gar nicht?

Diesen scheinbaren Mangel an wirklichem „Sex ohne Gesetz“, an reinem  Akt als solchem muss man irgendwie anders herum erreichen. Man kann den psychoanalytischen oder meditativen Akt nehmen z. B., aber da werden viele sagen, wo ist da der Sex? Gewiss geht es in der analytischen Stunde oft um Sex oder ist oft eine sogenannte erotische Übertragung des Analysanden und Gegenübertragung des Analytikers im Spiel. Aber eben nur „im Spiel“, nicht in der Wirklichkeit. Nur imaginär und symbolisch, aber nicht real. Nur virtuell, nur fast-real, nur intersubjektiv.

Um den „Sex ohne Gesetz“ zu erstehen und zu erfahren, muss man ihn eben mit der „Macht ohne Machthaber“ kombinieren, irgendwie verbinden, koordiniert handhaben. Dazu empfehle ich meine Analytische Psychokatharsis, in der das „Strahlt“ der Katharsis, der körpernahen Entspannung, Durchrieselung mit dem „Spricht“ des Analytischen verbunden und kombiniert ist.

Dr. Günter von Hummel ist Arzt und Psychotherapeut, und hat das Verfahren der Analytischen Psychokatharsis in zahlreichen Kursen und Büchern veröffentlicht.


Literatur
Weiterführende Literatur:
Herzsprache. Eine Psychoanalyse des Herzens
Analytische Psychokatharsis: Eine Verbindung von Meditation und Wissenschaft
Ich liebe, also bin ich: Die Geschichte einer Erotomanie und der Versuch einer Dialektik der Liebe